Aufgrund der gegenwärtigen Situation an den Aktienbörsen habe ich mich entschlossen, den kurzen Essay: „Die Börse als Jagd“ als Buch zu veröffentlichen. Viele Verwandte, Freunde und Bekannte sind mittlerweile in Aktien investiert. Eine nun bereits 16 Jahre andauernde Aufwärtsbewegung hat sie an die Aktienmärkte gelockt. Erfahrungen haben sie kaum, glauben jedoch fest an zukünftige Gewinne.
Doch alle Daten der Vergangenheit können die Zukunft nicht vorhersagen. Ein Markt, der aufgrund beispiellos langer Zeiträume niedriger Leitzinsen, begründet mit der Finanzkrise ab 2008 und der Coronakrise ab 2020, in die Höhe getrieben wurde, wird immer fragiler. Hinzu kommt die Euphorie des Hypes um die künstliche Intelligenz. Die Gefahr für negative schwarze Schwäne steigt.
Aus meiner Sicht hat sich der Finanzmarkt zu weit von der Realwirtschaft entfernt. Aktienkurse und Assetpreise sind inflationär gestiegen. Eine unerfahrene Masse kann sie weiter in die Höhe treiben, doch wird sie ebenso emotional auf mögliche schlechte Nachrichten reagieren.
Der Essay: „Die Börse als Jagd“ assoziiert die waidmännische Jagd mit der Jagd an der Börse. Er kann sowohl als Anleitung für die erfolgreiche Spekulation dienen, ebenso jedoch als Warnung vor ihr verstanden werden.
Das Buch erscheint am 11.Mai und ist dann überall erhältlich. Illustriert hat es Matthias Dettmann.
Hier lesen Sie einen Auszug.
Waldszene
Finster steht der Wald, die Kälte der Nacht hat ihren Höhepunkt überschritten und der Morgennebel legt sich über das Feld. Allein streift der Jäger durch das taunasse Gras zu seinem Hochsitz am Waldesrand. In einer Stunde wird die Sonne aufgehen. Langsam und leise schleicht er voran, steigt die Leiter empor hinein in seinen Verschlag. In der Thermoskanne ist heißer Tee mit Rum und Zucker, im Rucksack sind zwei Schinkenbrötchen. Er gießt ein, trinkt und isst, sieht hinaus in die Dunkelheit, kaut, lehnt sich zurück und wartet. Vollkommene Ruhe. Nur der Atem durchrauscht die Luft. Gedanken dringen in sein Unterbewusstsein. Er überlegt, schließt die Augen. Die Flinte mit doppeltem Lauf liegt vor ihm auf dem Brett, geölt und geladen. Draußen zeichnen die Umrisse der Bäume und Büsche allmählich den Morgen. Aus der Dunkelheit erwacht das Leben. Im Gebüsch knackt es. Der Jäger lauscht, nimmt seine Flinte zur Hand, entsichert. Er lauert. Da tritt der Hirsch aus dem Wald aufs Feld, steht still, schaut, wittert und geht weiter. Dem Hirsch folgen Hindinnen, Junghirsche und Kälber. Ein großes Rudel zieht zur morgendlichen Äsung.
Der Jäger wartet. Seine Sinne sind hellwach, sein Herz schlägt schnell. Er betrachtet das Rudel, wählt aus und legt an. Im richtigen Augenblick drückt er ab. Das Rudel stiebt auseinander und flieht in Richtung Wald. Das getroffene Tier sinkt zu Boden.
Jagdinstinkt
Das Jagen, mit dem Ziel und der Notwendigkeit, sich selbst, seine Nachkommen und Artgenossen zu ernähren und am Leben zu erhalten, ist dem Menschen seit seiner Entstehung eigen. Wir können diese menschliche Fähigkeit und Eigenschaft als angeborenen Instinkt betrachten, als inneren Naturtrieb, der sich in der Aktivität der Jagd äußert.
Urwälder bedeckten einst die Kontinente. Es herrschte eine große Artenvielfalt, die den Menschen nährte. Mit dem massiven Wachstum unserer Population verringerten sich die Flächen der Wälder, die Vielfalt der Arten und die Größe, der für die Ernährung bedeutsamen Wildbestände. Heute ist es nur noch wenigen Menschen möglich, ihrem Jagdinstinkt durch die waidmännische Jagd in der Natur zu folgen.
Da der Jagdinstinkt, als unerschütterlicher Urtrieb dem modernen Menschen der Gegenwart aber ebenso innewohnt, wie er dem frühen Menschen innewohnte, schuf und schafft er sich neue Wege und Formen, um sein Bedürfnis zu befriedigen und dieser natürlichen Beschäftigung nachgehen zu können.
Es sei hier die Behauptung und These aufgestellt und im Folgenden näher erläutert, dass die Börse im Kapitalismus eine solche Form ist - eine Einrichtung, die der Befriedigung des Jagdinstinktes dient.
Gehirn
Das Substrat für diesen Instinkt, der Ort aus dem er entspringt, ist das Gehirn. Hier sitzen die Eigenarten und Eigenschaften, die uns nicht allein von anderen Tieren, sondern ebenso voneinander unterscheiden. Die Gehirnstrukturen zweier Menschen ähneln sich zwar im Groben, doch unterscheiden sie sich in der Feinstruktur - der Art und Anzahl der Verknüpfungen zwischen den Neuronen. Diese Unterschiede, teils angeboren, teils erworben, sind verantwortlich für die Variabilität in der Ausprägung menschlicher Fähigkeiten.
Der Waidmann muss, um erfolgreich zu sein, neben einer besonderen Schärfe seiner Sinne außerdem über einen Erfahrungsschatz verfügen, den er durch zahlreiche Erlebnisse und Fehlschläge erworben hat. Er jagt das ihm in seiner Gehirnleistung, in seiner Intelligenz unterlegene Tier. Trotz dieses Vorteils ist die Jagd für ihn eine Herausforderung, denn auch das Wild ist intelligent.
Je vitaler es ist, desto schwieriger gestaltet sich die Jagd. Diese Schwierigkeit, das Überlisten eines anderen Lebewesens mit Hilfe der eigenen Geisteskraft, ist wesentlich. Sie macht den Reiz der Jagd aus und steht womöglich noch vor dem Motiv des Erfolgs, der erfolgreichen Jagd. Die Möglichkeit des Entkommens des Wildes und des Leerausgehens des Jägers ist ebenso wesentlich. Erfolg und Misserfolg stehen sich gegenüber. Dazwischen steht der Intellekt.
Findet an der Börse Ähnliches statt? Was wird hier gejagt? Mit welchem Ziel, mit welcher Motivation?
An der Börse stehen sich Individuen ein und derselben Art gegenüber, deren Ziel es ist, durch Spekulation einen Gewinn zu erzielen. In Übereinstimmung mit der waidmännischen Jagd ist die Tätigkeit selbst - das Spekulieren oder das Überlisten des Anderen als die ursprüngliche und mit dem Jagdtrieb assoziierte geistige Beschäftigung - reizvoll. Der Gewinn kann neben Glück und Zufall, nur durch Geschick, List und Strategie, also durch geistige Überlegenheit erzielt werden.
Die aus der Unterschiedlichkeit der Menschen bezüglich ihrer Fähigkeiten und Hirnstrukturen resultierende Überlegenheit bzw. Unterlegenheit einzelner Individuen ist die Grundvoraussetzung für die Jagd, bei der es immer Jäger und Gejagte geben muss. Stünden sich an der Börse Menschen mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, derselben Hirnstruktur und geistigen Leistungsfähigkeit gegenüber, gäbe es bei gleichen äußeren Bedingungen und Einflüssen keine Bewegung, kein Schwanken der Kurse, kein Kaufen und Verkaufen.
Die Ungleichheit zwischen einzelnen Menschen ist wesentlich geringer als die zwischen Mensch und Wild: Sie ist die Ungleichheit unter Artgenossen. Mit der Abnahme der Ungleichheit, mit der Verringerung des intellektuellen Abstands, steigt die Herausforderung, die Schwierigkeit und somit der Reiz der Jagd. Aufgrund der geringeren Unterschiede zwischen Jäger und Gejagten ist der Wettstreit an der Börse weitaus fairer als der Wettstreit im Wald.
An der Börse wird nicht das Geld, nicht der Gewinn gejagt, sondern der Mensch selbst. Er jagt Seinesgleichen, seinen Artgenossen und Mitmenschen. Der Andere, der Ungleiche, der ebenfalls Teilnehmer der Jagd an der Börse ist, wird zum Gejagten. Wer Jäger und wer Gejagter ist, lässt sich nicht immer leicht bestimmen, denn aufgrund der intellektuellen Ähnlichkeit der Börsenteilnehmer kann ein Jäger sehr schnell zum Gejagten und ein Gejagter zum Jäger werden.
Selektionsmaschine
Bei der Jagd an der Börse gewinnt der geistig Überlegene, der Schnellere, der Klügere, der Listigere. Der geistig weniger Vitale verliert. Er ist das Wild, das Opfer, der Erlegte, die Beute.
In Zeiten großer Kapitalakkumulation in wenigen Händen kann die aus ihr resultierende Macht zu Manipulationen und damit zu erkauften oder erzwungenen Gewinnen führen. Ein Jäger mit einer Rakete statt einem Gewehr erlegt das gesamte Rudel und vernichtet somit den Wildbestand.
Die Börse ist eine riesige Selektionsmaschine: Dem erfolgreichen Jäger entsteht ein finanzieller Vorteil. Dem Erjagten ein finanzieller Nachteil.
Menschen zeigen ähnliche Bedürfnisse und unterliegen dem gleichen Druck, verursacht durch den Mangel an Ressourcen. So wird der Andere an der Börse zum Konkurrenten, ja geradezu zum Feind, den es zu erlegen gilt. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Individuen in einer Ordnung des Wettbewerbs um den Profit ist neben dem Urtrieb zur Jagd eine weitere Ursache für die Jagd an der Börse.
Der Sachverhalt des gegenseitigen Jagens der Börsenteilnehmer ist vielleicht nicht unmittelbar offensichtlich, doch zeigt er sich mit der Vergegenwärtigung des realen Umstands, dass einem Verkauf an der Börse immer ein Kauf gegenübersteht und letztendlich derjenige verliert, der zu spät kauft oder zu früh kauft bzw. verkauft.
Nicht jeder wird sich an der Börse als Jäger fühlen. Der Börsianer ist sich der Tatsache oft nicht bewusst, dass der eigene Gewinn immer auf Kosten eines Gegenübers, eines Unterlegenen erlangt wird. Dieses Gegenüber ist nicht sichtbar, es bleibt anonym. So ist die unbewusste und anonyme Jagd eine Besonderheit des globalen Jagdreviers der Börse.
Tom Reimer
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