Anfangen
Ein Gaubenfenster ihrer Wohnung ließen meine Großeltern Tag und Nacht offen, so dass die Katzen nach Belieben ein und aus gehen konnten. Sie kletterten an der weißen Borke der alte Birke bis zur Höhe der Dachrinne hinauf, sprangen auf das Spitzdach und stiegen über den First, um zum Fenster zu gelangen. Nachts schliefen sie auf den Fußenden der Federbetten.
Mit der deutschen Vereinigung wurde das Haus verkauft und der neue Besitzer erhöhte die Miete und fällte die Birke. Die Wurzeln schädigten angeblich das Fundament. Meiner Großmutter ging das sehr nahe. Sie liebte die Birke. Sie war Hausbaum, Katzentreppe, spendete Schatten. Sie gehörte zum Haus, bildete mit ihm eine ästhetische Einheit. Das Weiß des Stammes vor dem roten Backstein, die hängenden Äste mit den kleinen grünen Blättern, die erhabene Gestalt, viel größer als ein Mensch.
Und doch war dieser fähig, jenen zu zersägen, ihm den festen Stand zu nehmen, nur einen Stumpen zurückzulassen, im nun kahlen Boden steckend mit einer fast weißen, runden, nach oben schauenden Platte, die als Grabmal übrig blieb.
Scheinbar nichts fühlten sie dabei, ein so gewaltiges Lebewesen umzuwerfen. Nicht ein Hauch von Empathie entstand in den vom Lärm der Motoren, vom Rattern der Ketten betäubten Gehirnen. Birken waren schließlich keine Menschen. Hatten kein Gehirn.
Doch wie weit war es vom Baum zum Mensch? Nur ein wenig Betäubung mehr und der Mensch brachte seinen Mitmenschen um. Das ging noch leichter, schneller, machte weniger Arbeit. Keine Wurzel blieb im Boden zurück.
Wir wissen nicht, ob es da draußen in den zahllosen Galaxien noch einmal Leben gibt, ob die Umweltbedingungen irgendwo so sind, dass DNA und mit ihr die vielfältigen Lebensformen entstehen können. Vielleicht haben wir hier auf dieser Erde die einzigartige Möglichkeit, überhaupt zu leben.
Gegenwärtig vernichten wir dieses Leben. Für das Materielle, für das Haus, die Maschine. Für das Geld, den Profit, die Macht.
Der Mensch war immer ein wirtschaftender Mensch. Doch eine Kultur, die allein auf wirtschaftlichen Werten gründet und dabei das Leben missachtet, gefährdet sich selbst. Das Materielle verdrängt das Lebendige. Das Denken dreht sich allein um Zahlen und die Kultur verarmt. Denn das Menschliche im Menschen, dass Kultur Schaffende geht im Streben nach finanziellem Gewinn verloren.
Das muss nicht so sein. Der Mensch erschafft selbst die Ordnungen, in denen er lebt. Er kann sie verändern, neu anfangen. Er kann wieder am Leben festhalten, am Mikroorganismus, am Pilz, der Pflanze, dem Tier. Er kann die Erhaltung alles Lebendigen an die erste Stelle stellen.
Er kann eine Kultur schaffen, in der das Leben wieder einen Wert an sich hat und geschützt wird. In der der Mensch sich selbst positiv sieht. Nicht als Zerstörer, sondern als Teil und Bewahrer der Natur. Eine Kultur, in der jeder Einzelne seine überpersönliche Verantwortung wahrnimmt, indem er etwas für andere Menschen, für anderes Leben macht. In dieser Kultur stünde die Birke noch.
Wir müssen nicht warten. Wir können sofort damit anfangen.
Schaffen wir eine Neue Kultur - Weil Menschsein mehr ist als Ökonomie